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"Willst du gesund werden?" (5.3.06)

Predigt zu Johannes 5, 1-15 (Segnungsgottesdienst zum Tag der Kranken 5. März 2006 - Kirche Allmendingen b. Thun)

„Willst du gesund werden?“ fragt Jesus den Kranken am Teich Bethesda. - Eine merkwürdige Frage scheint dies auf den ersten Blick zu sein. Sicherlich will der Kranke gesund werden. Wer will denn nicht gesund werden? Auf den zweiten Blick ist dies nicht mehr so ganz sicher. Vor allem, wenn wir diese Geschichte etwas näher betrachten, in der Jesus einen Menschen einlädt erste Schritte auf einem Wandlungsweg zu machen, der ihn aus Passivität, Abhängigkeit und Resignation hinein in ein Leben in Eigenverantwortung führt.

„Willst du gesund werden?“ fragt Jesus. - „Ich habe keinen Menschen“ antwortet der Kranke und in diesem Satz klingt etwas von der ganzen jahrzehntelangen Krankheitsmisere an, die der Kranke bereits durchgemacht hat:
Wir können uns ausmalen, wie vor vielen vielen Jahren eine Krankheit über den vorher Gesunden hereingebrochen war, die sein Leben völlig umgekrempelt hatte. Wie er  vorerst vergeblich versucht hatte, mit bewährten Hausmitteln dagegen vorzugehen. Wie er dann Ärzte und Priester aufgesucht hatte in ganz Jerusalem und im Tempel. Wie er immer wieder neue Ratschläge und Heilmittel erhalten und immer wieder neue Hoffnung investiert hatte und wie seine Hoffnung immer und immer wieder enttäuscht worden war. Und als die Heilkundigen mit ihrer Heilkunst am Ende waren, blieb dem sozusagen „medizinisch Ausgesteuerten“ nichts anderes mehr übrig, als sich täglich auf einer Liegematte von barmherzigen Nachbarn zum Teich Bethesda tragen zu lassen.
Der Teich Bethesda: In 5 Säulenhallen, um den Teich gruppiert, vegetierten sie vor sich hin, die unheilbar Kranken, all diejenigen, die sich hier an einem wundertätigen Ort an einen letzten Hoffnungsfaden für ihr Leben klammerten. Der Teich Bethesda war ein merkwürdiger Ort: Von Zeit zu Zeit wallte das Wasser im Teich auf. Man erzählte sich, der Grund für dieses Aufwallen sei ein Engel, der zu gewissen Zeiten in den Teich hinabsteige und das Wasser bewege. Wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hineinsteige, werde gesund, mit welcher Krankheit er auch behaftet sei.
Die Überlieferung vom Teich Bethesda ist ein Zeugnis dafür, dass es durchaus heilende Schöpfungskräfte gibt, die sozusagen Wunder wirken, wenn wir zur rechten Zeit am rechten Ort mit ihnen in Berührung kommen. Die Legende vom Engel, die sich um diesen Teich rankt, weist uns auf das Engelswirken hinter den Schöpfungskräften hin. Aber eben: Für Schöpfungskräfte, auch wenn sie in Verbindung mit Engelenergien stehen mögen, gilt das unerbittliche Gesetz der Schöpfung: Wer zuerst kommt, schöpft zuerst, dann lässt die Heilkraft der Schöpfung nach und die Schöpfungskräfte müssen sich wieder regenerieren. Und damit bleibt der Kranke auf seiner Matte chancenlos. Denn: „Ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser bewegt wird; während ich aber komme, steigt ein andrer vor mir hinab.“ An diesem für ihn Hoffnungsort, der für diesen Kranken hoffnungslos geworden ist, vegetiert er nun seit vielen Jahren dahin. Er hat sich mittlerweile an seinen Zustand gewöhnt. Resigniert klingt deshalb seine Antwort: „Ich habe keinen Menschen...“

Doch da ist ein Mensch. Und er fragt: „Willst du gesund werden?“ Da ist Jesus Christus - „ecce homo“ - der Mensch: Mit den Pilgerscharen ist auch er in die Stadt gekommen zum grossen Tempelfest. Aber anders als die anderen Pilger, die beim Eintritt durch das Schaftor den Blick schnell von diesen Elenden am Teich Bethesda abwenden, um möglichst bald zum Ziel ihrer Wallfahrt, zum Tempel zu gelangen, geht Jesus nicht achtlos an Bethesda vorüber. Er nimmt das Elend wahr: Die Menge der von der Medizin Aufgegebenen,  von der Gesellschaft Ausgegrenzten, die am Rand dieses Teichs noch knapp geduldet werden. Da ist ein Mensch – Jesus - und er sieht nicht nur das namenlose Elend, sondern er sieht diesen einen Kranken. Er spricht ihn an, nimmt sich für ihn Zeit, lässt sich seine Geschichte erzählen, diese Geschichte voller Schmerz und Resignation, diese Geschichte voller Hilfsbedürftigkeit und voller Abhängigkeiten.
Und während Jesus den Kranken anschaut und ihm zuhört, sieht er tiefer: Er erblickt in dieser verkrümmten Kreatur das göttliche Ebenbild. Er sieht in dessen Innerstem den gelähmten Keim der göttlichen Kraft, sieht die Möglichkeiten, die dieser Mensch noch hat, wenn dieser göttliche Keim sich entfalten kann, sieht den Keim im Geist aufwachsen... „Willst du gesund werden?“

„Ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser bewegt wird ...“
Doch, da ist ein Mensch – Jesus. Aber er lässt sich nicht vereinnahmen vom Kranken. Er lässt sich nicht einspannen von den Vorstellungen des Kranken, wie Heilung geschehen müsste. Er trägt ihn nicht möglichst schnell zur wundertätigen Quelle, er weiss, dass es noch stärkere Kräfte gibt, als die vergänglichen Heilkräfte der Schöpfung: Er spürt die Gotteskräfte, die im Aller-Innersten dieses Menschen zur Entfaltung kommen wollen – und so sagt er schlicht und einfach zu ihm: „Steh auf, hebe deine Matte auf und geh umher.“

„Willst du gesund werden?  Steh auf!“ Diese schlichte Aufforderung bedeutet für den Kranken eine gewaltige Herausforderung. Aufstehen? das kann ich doch nicht, da musst du  mir helfen. Längst hat er verlernt, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Und jetzt soll er Eigenverantwortung übernehmen und selber aufstehen? soll die Matte aufheben und herumtragen? Kann er das? nicht länger anderen zur Last fallen und sich auf seiner Matte von ihnen herumtragen lassen. Kann er das? will er das? selber aufstehen und selber seine Matte tragen? selber grad stehen für das, was ihm geschieht und selber Verantwortung übernehmen für das, was er tut?

„Willst du gesund werden? Steh auf!“ – Der Wille zum Gesundwerden wird hier angesprochen - und erwacht. Mit dieser Aufforderung, mit dieser Herausforderung und mit diesem neuerwachten Willen zum Gesundwerden geht ein gewaltiger Ruck durch den bisher unheilbar Kranken. Stellen wir uns sein Gesicht vor, seine ersten tastenden Bewegungen, sein ungläubiges Staunen, seine wachsende Freude und schliesslich seine Begeisterung, mit der er der Aufforderung Jesu nachkommt. – Und wenig später sehen wir ihn, wie er beschwingt in den Säulenhallen von Bethesda umhergeht und mit seiner neugewonnen Kraft die Matte auf seinen Schultern herumträgt. Und das, obwohl es am Sabbat nicht erlaubt ist, Gegenstände zu transportieren. Doch schon haben ihn die frommen Gesetzeshüter entdeckt: „Es ist Sabbat, und es ist dir nicht erlaubt, das Bett aufzuheben.“

Noch kurz zuvor hätte der Kranke auf solch massive Vorwürfe wohl geknickt und schwach reagiert. Doch mit seinem Aufstehen ist auch seine innerste Aufrichtekraft erwacht: Überhaupt nicht schuldbewusst, sondern recht selbstbewusst sagt er: „Der mich gesund gemacht hat, der sprach zu mir; Hebe dein Bett auf und geh umher!“ Doch als sie genauer nachfragen wollen, da hat er keine Ahnung, wer dieser Mensch gewesen ist, der sich ihm als wahrer Mensch gezeigt hat. „Denn Jesus hatte sich hinwegbegeben, während eine Volksmenge an dem Orte war.“ Unverrichteter Dinge müssen die Ankläger abziehen und der Kranke strebt nun selber dem Tempel zu, um Gott für seine Heilung zu danken.
Und dort erhält die Geschichte noch ein Nachspiel: Der Evangelist schreibt: „Darnach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nicht etwas Schlimmeres widerfährt! Der Mensch ging weg und sagte allen, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.“

Liebe Gemeinde,
Vielleicht scheint es uns etwas problematisch zu sein, dass Jesus hier einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde herzustellen scheint. Problematisch deshalb, weil solche Zusammenhänge allzu oft missbraucht worden sind und noch missbraucht werden, und damit Kranke zu ihrer Krankheit hinzu noch als besondere „Sünder“ gebrandmarkt und damit zusätzlich belastet werden. Wir sind vorsichtiger geworden mit dieser Bezeichnung, sogar dann, wenn grossangelegte Untersuchungen den direkten Zusammenhang zwischen falscher Ernährung oder Suchtmittelmissbrauch und gewissen Krankheiten belegen. Der Zusammenhang zwischen ungesundem Lebensstil und Krankheit besteht durchaus. Doch das „sündige nicht mehr!“ meint hier mehr als eine bloss moralische Komponente. Es will dem ehemals Kranken sagen: Du hast dich vom blossen Vegetieren, von der Welt des Todes, abgewendet. Stell dich nun ganz auf die Seite des Lebens, ganz, radikal. „Willst du gesund werden?“ Dann lass ab von dem, wo du spürst, dass es dich letztlich von deinem eigenen Wesenskern und von Gott wegbringt. Lass ab von all dem, wo du weisst, dass es dich krank macht, wenn du die neugewonnene Heilung und die neugewonnene Verbindung mit dem Heil festigen und nicht wieder verlieren willst. Lebe aus der inneren Verbindung mit der Lebensquelle in Jesus Christus. So wie es der Apostel Paulus einmal formuliert hat: „Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal. 2,20). Lebe aus dieser Verbindung, pflege diese Verbindung, dann bist du nicht nur geheilt, sondern du lebst aus der Kraft des Heils und kannst von diesen Heilskräften weiterschenke an andere Menschen, die selber immer wieder seufzen: „Ich habe keinen Menschen...“
Ihr Seufzer „ich habe keinen Menschen“ muss nicht unerhört bleiben. Gerade in dir können andere einen Menschen kennen lernen, der, weil er die Kraft Christi erfahren hat und aus ihr lebt, nicht achtlos an ihnen vorbei geht. Du kannst den Mitmenschen ein Mensch werden, ein Mensch, der sie  sieht, der Zeit für sie hat, der sie ernst nimmt, der Gottes Ebenbild in ihnen entdeckt, tief unter allenVerkrümmungen durch Krankheit und Schuld, der ihnen ihre innere Würde zurückgibt und sie der heilenden Kraft Gottes anvertraut.

Weil Gott Mensch geworden ist, dem Mitmenschen ein Mensch sein. Das versucht ihr vom Team Handauflegung mit eurem Dienst. Und damit ihr diesen Dienst weiterhin in der Kraft Christi tun könnt, wünscht ihr heute diesen Segenszuspruch mit Salbung. Weil Gott Mensch geworden ist, dem Mitmenschen ein Mensch sein, das können wir alle immer wieder neu versuchen, die wir hier in diesem Gottesdienst anwesend sind. Deshalb dürfen auch wir uns segnen und salben lassen, und für das, was wir zu tragen haben, eine Handauflegung empfangen. Dadurch wird sich das Heil ausbreiten, sogar da, wo konkrete Heilerfolge ausbleiben mögen und wo es gilt, Krankheit zu tragen. Wo Menschen in der Kraft Christi andern zu Menschen werden, tragen diese Menschen ihre Bürde mit einer neuen Würde. Krankheit verliert so ihren tiefsten Stachel. Sie führt nicht mehr in Resignation und Verelendung, sondern nährt die Hoffnung auf Vollendung. Dies gebe uns Gott. Amen.

Markus Nägeli

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